[U]nsre Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit. So ist es auch mit dem Glasperlenspiel. Die Künstlernaturen sind in dies Spiel verliebt, weil man darin phantasieren kann; die strengen Fachwissenschaftler verachten es – und auch manche Musiker tun es –, weil ihm jener Grad der Strenge in der Disziplin fehle, den die Einzelwissenschaften erreichen können. Gut, du wirst die Gegensätze kennenlernen und wirst mit der Zeit entdecken, daß es nicht Gegensätze der Objekte sind, sondern der Subjekte, daß zum Beispiel ein phantasierender Künstler die reine Mathematik oder Logik nicht deswegen meidet, weil er etwas von ihr erkannt und auszusagen hätte, sondern weil er instinktiv anderswohin neigt. Du kannst an solchen instinktiven und heftigen Neigungen und Abneigungen mit Sicherheit die kleineren Seelen erkennen. In Wirklichkeit, das heißt in den großen Seelen und überlegenen Geistern, gibt es diese Leidenschaften nicht. Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie. Merke dir: man kann strenger Logiker oder Grammatiker und dabei voll Phantasie und Musik sein. Man kann Musikant oder Glasperlenspieler und dabei ganz Hingabe an Gesetz und Ordnung sein…
Es gibt die Wahrheit, mein Lieber! Aber die „Lehre“, die du begehrst, die absolute, vollkommene und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert.
(Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, 29. Aufl. 1994, S. 83 ff.)