Das merkwürdig zweideutige Recht

Die Stellung der Magisterstellvertreter, auch „Schatten“ genannt, …, ist eine höchst eigentümliche. Jeder der Magister hat einen Stellvertreter, den ihm nicht etwa die Behörde zur Seite stellt, sondern den er selbst aus dem engeren Kreis seiner Kandidaten wählt und für dessen Handlungen und Unterschrift der Meister selbst, den er vertritt, die volle Verantwortung trägt. Es ist also für einen Kandidaten eine große Auszeichnung und ein Zeichen höchsten Vertrauens, wenn er von seinem Meister zum Stellvertreter ernannt wird, er wird dadurch als intimer Mitarbeiter und rechte Hand des allmächtigen Magisters anerkannt und übt jedesmal, wenn der Magister verhindert ist und ihn schickt, dessen Amtshandlungen aus, allerdings nicht alle: an Abstimmungen der obersten Behörde zum Beispiel darf er nur als Überbringer eines Ja oder Nein im Namen seines Meisters auftreten, niemals als Redner oder Antragsteller, und was dergleichen Vorsichtsmaßregeln mehr sind… [D]er Stellvertreter trägt nicht die Verantwortung für seine Amtshandlungen und … zugleich tritt er das merkwürdig zweideutige Recht an, mit etwaigen Verfehlungen in seiner Amtsführung nicht sich selber, sondern seinen Magister zu belasten, der allein für ihn einzustehen hat. Und es ist in der Tat schon vorgekommen, daß ein Magister das Opfer des von ihm gewählten Stellvertreters geworden ist und einer gröberen Verfehlung wegen, die der andere sich zuschulden kommen ließ, von seinem Amte hat zurücktreten müssen. Der Ausdruck, mit welchem … der Stellvertreter des Glasperlenspielmeisters bezeichnet wurde, wird dessen eigentümlicher Stellung, seiner Verbundenheit, ja quasi Identität mit dem Magister … vorzüglich gerecht. Man nennt ihn dort den „Schatten“.

(Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, 29. Aufl. 1994, S. 224 ff.)

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