Das „Kleine-Welt“-Phänomen

Das „Kleine-Welt“-Phänomen … beruht auf einer Idee, die ursprünglich von dem ungarischen Autor Frigyes Karinthy im Jahr 1929 beschrieben wurde. Karinthy stellte sich ein Szenario vor, in dem jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen über eine Kette von höchsten fünf Bekanntschaftsbeziehungen verbunden ist. Vier Jahrzehnte später entwickelte der Psychologe Stanley Milgram ein konkretes Experiment, um die Anzahl von Verbindungen zwischen zwei beliebigen Menschen zu zählen. Milgram wählte mehrere Personen aus verschiedenen US-amerikanischen Städten wie Omaha in Nebraska und Wichita in Kansas aus, die als Startpunkte dienten. Als Zielstadt wurde aufgrund der großen sozialen und geographischen Entfernung Boston in Massachusetts festgelegt. Dann sandte man zufällig ausgewählten Personen in Omaha oder Wichita Informationspakete, denen man ein Schreiben beilegte, das den Zweck der Studie erklärte und Basisdaten über eine Zielperson in Boston enthielt. Wenn der Empfänger die Zielperson persönlich kannte, sollte er den Brief direkt an diese Person schicken. In dem wahrscheinlicheren Fall, dass er sie nicht kannte, sollte er überlegen, welcher persönliche Bekannte die Person möglicherweise kennen könnte, und den Brief an diesen weiterleiten. Die Sendungen wurden jedes Mal abgezeichnet, wenn sie weiterverschickt wurden, damit die Wissenschaftler zählen konnten, durch wie viele Hände sie gegangen waren.

Milgrams Experiment litt allerdings unter einigen Schwächen, insbesondere weil viele der Leute sich weigerten, den Brief weiterzuleiten. Bei den Sendungen, die es bis zur Zielperson schafften, betrug die durchschnittliche Anzahl der Mittler 5 bis 6. Daraus folgerten die Wissenschaftler, dass jeder Mensch auf der Welt durch durchschnittlich lediglich sechs Personen von jedem anderen Menschen getrennt ist.

Die Mathematik hinter dieser Idee ist ziemlich einfach. Angenommen, eine Person kennt im Durchschnitt 100 Menschen, von denen jeder 50 weitere Leute kennt, die wiederum weitere 50 Menschen kennen, und so weiter bis zur sechsten Stufe. Das entspricht: 100 x 50 x 50 x 50 x 50 x 50 = 31.250.000.000 oder über 31 Milliarden. Die derzeitige Weltbevölkerung liegt bei knapp 7 Milliarden, sodass sechs Stufen mühelos ausreichen, um alle abzudecken.

Eine neuere Studie von Wissenschaftlern der Columbia University hat weitere Beweise für das Phänomen der „kleinen Welt“ erbracht. Das Experiment mit dem Namen “Small World Experiment” wurde online durchgeführt und jeder Teilnehmer erhielt nach dem Zufallsprinzip eine Zielperson zugeteilt – jeweils eine von 18 weltweit verteilten Personen. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, die Verbindung zur Zielperson durch eine E-Mail-Kette von Freunden und Bekannten aufzunehmen. Etwas 60.000 Personen aus 170 Ländern nahmen teil. Gestützt auf Hunderte von erfolgreich hergestellten Ketten kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Anzahl von Verbindungen tatsächlich bei sechs liegt.

Forscher haben festgestellt, dass der “Small-World-Effect” in jedem großen Netzwerk von miteinander verbundenen, dynamischen Elementen auftreten kann – vom nationalen Elektrizitätsnetz über das Internet bis hin zum menschlichen Gehirn und Genom. Steven Strogatz, Professor für angewandte Mathematik an der Cornell University, ist ein Experte für dieses Phänomen und hat bahnbrechende Entdeckungen über die so genannte „universale Architektur“ der Verbundenheit gemacht. Strogatz und sein Mitarbeiter Duncan Watts berechneten, dass eine kleine Zahl von Abkürzungen zwischen wenigen Komponenten genügt, um den Effekt zu erzeugen – und ein überraschend engmaschiges Verbindungsnetz zwischen Menschen, Websites oder Hirnzellen zu finden. Die Wissenschaftler untersuchten mehrere real existierende Systeme, um ihre Theorie zu überprüfen. In einer Studie untersuchten Strogatz und Watts fast eine viertel Million Schauspieler, die in der Internet-Film-Datenbank aufgelistet sind. Die Ergebnisse bestätigten ihre Theorie: eine kleine Anzahl von bekannten und erfolgreichen Schauspielern erwiesen sich als Schnittstellen eines hochstrukturierten Netzwerks, über das alle möglichen Schauspieler über wenige Schritte miteinander verbunden werden konnten. So lässt sich etwa Alfred Hitchcock über lediglich drei Schritte mit Demi Moore verbinden: Hitchcock trat zusammen mit Orson Welles in dem Dokumentarfilm “Show Business At War”(1943) auf; Welles trat in “A Safe Place” (1971) zusammen mit Jack Nicholson auf; und Nicholson spielte neben Demi Moore eine Rolle in “A Few Good Men”… In einer weiteren Studie fanden die Wissenschaftler heraus, dass sich jede der 282 Nervenzellen eines Fadenwurms über ihre 2.462 synaptischen Verbindungen in durchschnittlich 2 bis 3 Schritten mit jeder anderen Nervenzelle verbinden ließ.

Kein Wunder, dass solche Ergebnisse so viele Menschen in Staunen und Begeisterung versetzen: Wir alle sind enger miteinander verbunden, als wir denken. Unsere Welt ist viel kleiner – und viel numerischer –, als den meisten Menschen bewusst ist.

(Daniel Tammet, Wolkenspringer – Von einem genialen Autisten lernen, 2009, S. 173 ff.)

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