Zivilisation der Stellvertretung

Die RAF war damals nicht nur für mich das interessanteste Material aus dem Westen. Die Möglichkeit einer Renaissance des Faschismus in der Bundesrepublik war schon Brechts „Wildente“ gewesen. So konnte man die DDR aushalten. Die Überreaktion des westdeutschen Staatsapparats auf den bewaffneten Kampf einer verschwindenden Minderheit nährte diese Furcht/Hoffnung. Das gehörte zur Situation des Kalten Krieges. Paradigmatisch war die Kaufhaus-Brandstiftung, der Versuch, den Leuten mit einer konkret spürbaren Metapher ein Gefühl dafür zu geben, was der Vietnam-Krieg bedeutete. Die Schlußrede von Koch: „Seid nicht hochfahrend, brüder / sondern demütig und schlagt es tot / nicht hochfahrend sondern: unmenschlich“… Diese Verbindung von Demut und Töten ist ein Kernpunkt des „Fatzer“-Textes und ursprünglich auch der RAF-Ideologie. Leute, die sich zum Töten zwingen müssen. Darum geht es auch in „Mauser“ und in der „Maßnahme“. Eigentlich ist politische Gewalt dadurch diskreditiert worden, daß der Staat das Töten übernommen hat, es bürokratisiert hat durch das Gewaltmonopol. Wir leben in einer Zivilisation der Stellvertretung, die christliche Zivilisation ist die Zivilisation der Stellvertretung, einer für alle, einer hängt für die andern am Kreuz.

In einem Buch des Polen Richard Kapuscinski über Äthiopien wird aus der Rede eines Guerillaführers vor einer entscheidenden Schlacht zitiert. Er betete zum ersten Mal zu dem Gott der Christen: „But this time don´t send your son, come yourself“. Das ist, glaube ich, ein ganz wesentlicher Schnitt zwischen der christlichen Zivilisation Europas und andern Zivilisationen. Einen Kommentar dazu liefert eine Science-fiction-Story: Sie spielt auf einem Planeten, wo die Bevölkerung rein logisch funktioniert. Es gibt da eine Handelsstation, Fabriken, die exakt arbeiten, jedenfalls aus der Sicht des leitenden Ingenieurs, der aus Ohio stammt. Eines Tages steigt aus einem Raumschiff von der Erde ein Missionar. Der Ingenieur weiß genau, das ist die Katastrophe. Er versucht, den Missionar ins Flugzeug zurückzudrängen, schlägt den Mann krankenhausreif. Der Ingenieur wird um zwei Gehaltsklassen zurückgestuft, der Missionar erholt sich und fängt an zu missionieren. Er trägt den Eingeborenen das Evangelium vor. Sie lernen es auswendig, sie bauen eine Kirche und stellen ein Kreuz auf. Dann passiert, was der Ingenieur geahnt und befürchtet hat. Er hört ein Brüllen, rennt in die Kirche und sieht, wie die logischen Christen den Missionar ans Kreuz nageln, damit er auferstehen und zum Himmel fahren kann.

Der Kern des Problems ist, daß man Töten denken kann. Wenn man es für notwendig hält, hat man nicht das Recht, es selbst nicht zu tun: es nur zu delegieren, wäre unmoralisch.

Ein anekdotisches Beispiel aus dem Russisch-Polnischen Krieg, das in „Zement“ zitiert wird, von Isaak Babel: … Nach einer verlorenen Schlacht, die Truppe muß zurück, bitten verwundete Rotarmisten den Regiments-Kommissar: „Töte uns!“ Sie wußten, daß die polnischen Ulanen die Gewohnheit hatten, den feindlichen Verwundeten mit Lanzen die Eingeweide aus dem Leib zu drehen. Der Kommissar kann sie nicht töten, und die Verwundeten beschimpfen ihn als dreckigen Intelligenzler, weil er sie nicht töten kann. Die These von Carl Schmitt in „Theorie des Partisanen“ ist, daß mit der Revolution das totale Feindbild entsteht. Von den religiösen Fundamentalisten schweigt der Katholik. Mit den totalen Weltverbesserungsprogrammen entsteht das totale Feindbild. Wer Ausbeutung als ein Phänomen des Lebendigen akzeptiert, braucht kein absolutes Feindbild.

Für Carl Schmitt hatte der Krieg bis zur Französischen Revolution – das ist natürlich auch eine Frage der Waffentechnik – Duellcharakter. Es war ein Krieg der Armeen. Mit dem Volkskrieg entfällt dieser Duellcharakter, entfällt die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Soldaten, das heißt, ohne die Idee der Revolution keine Bombardierung von Coventry, Warschau, Dresden, und keine Guerilla. Der Atomkrieg schließlich setzt das totale Feindbild voraus, erzwingt Fundamentalismus. Unsre Zivilisation ist eine Zivilisation der Stellvertretung. Und Repräsentation bedingt Selektion, Auschwitz und Hiroshima sind Finalprodukte selektiven Denkens.

Der Kaufhausbrand war ein verzweifelter Versuch, die Zivilisation der Stellvertretung, der Delegierung des Leidens, zu provozieren, die Verlegung des Vietnamkriegs in den Supermarkt.

Denken ist lebensfeindlich. Es gibt eine Differenz zwischen Denken und Sein, zwischen Denken und Leben. Das ist das Paradox der menschlichen Existenz. Flaubert hat gesagt, der Individualismus ist die Barbarei. Die Konsequenz ist der Gedanke von Foucault, der Humanismus ist die Barbarei, weil Humanismus auch Ausschließung, Selektion bedeutet. Die Menschheit setzt sich einen Zweck, der Weg zum Ziel erfordert Kontrolle, Organisation, Disziplinierung, Selektion. Wenn es um die Emanzipation der Menschheit geht, ist der Feind ein Feind der Menschheit, also kein Mensch. Das ist die Grundfrage. Aber wie kann man absehen von Zwecksetzungen? Das ist ein Denken, mit dem wir aufgewachsen sind. Wie lernt man sich zurücklehnen und die Dinge akzeptieren, wie sie sind, sie nur einigermaßen zu regeln? Aber in den Wörtern „regeln“ und „einigermaßen“ steckt schon wieder das Problem. Immer „geht es“ nur „einigermaßen“, nichts geht auf. Das ist die Provokation der Apokalypse, der Johannes-Offenbarung. Da wird die Frage zum ersten Mal gestellt und dann an das Jüngste Gericht delegiert.

Ich glaube, Kunst ist ein Angriff auf dieses Paradox, auf jeden Fall eine Provokation, die auf dieses Paradox hinweist. Das ist eine Funktion von Kunst, eine vielleicht asoziale oder zumindest antisoziale, aber moralische Funktion von Kunst. Moral ist nicht sozial, das kann man nicht gleichsetzen. Ich finde die moralische Empörung über den Terrorismus irrelevant und eine Heuchelei, deswegen ist mir dieser Kernsatz in Brechts „Fatzer” so wichtig, das Wort „demütig“. Töten, mit Demut, das ist der theologische Glutkern des Terrorismus. Es gibt keine Lösung, das ist das menschliche Paradox. Aber mit Kunst kannst du dem nicht ausweichen in Moral, jedenfalls nicht in die gängige sozial eingebundene Moral. Kunst ist vielleicht auch ein Versuch der Tierwerdung im Sinne von Deleuzes und Guattaris Buch über Kafka. Ich fürchte, wir müssen es so dunkel lassen. Gegenstand der Kunst ist jedenfalls, was das Bewußtsein nicht mehr aushält, dieses schwer zu ertragende Paradox der menschlichen Existenz, die Unerträglichkeit des Seins. Das erklärt auch die Anfälligkeit von Intellektuellen, gerade in Europa, für Ideologie. Denn Ideologie bietet die Möglichkeit, die Last, die du eigentlich tragen müßtest, abzuwerfen. Das ist vielleicht das Wichtigste an Nietzsche, das ausformuliert zu haben, was in unsrer christlich determinierten Zivilisation begründet liegt: Schuld.

(Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht – Leben in zwei Diktaturen, 1992, S. 312 ff.)

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