Ich halte es für notwendig, ihm das mit der Klaustrophobie näher zu erklären.
„Weißt du, was hinter der Mathematik steckt?“ frage ich. „Hinter der Mathematik stecken die Zahlen. Wenn mich jemand fragen würde, was mich richtig glücklich macht, dann würde ich antworten: die Zahlen. Schnee und Eis und Zahlen. Und weißt du, warum?“ …
„Weil das Zahlensystem wie das Menschenleben ist. Zu Anfang hat man die natürlichen Zahlen. Das sind die ganzen und positiven Zahlen. Die Zahlen des Kindes. Doch das menschliche Bewußtsein expandiert. Das Kind entdeckt die Sehnsucht, und weißt du, was der mathematische Ausdruck für die Sehnsucht ist?“ …
„Es sind die negativen Zahlen. Die Formalisierung des Gefühls, daß einem etwas abgeht. Und das Bewußtsein erweitert sich immer noch und wächst, das Kind entdeckt die Zwischenräume. Zwischen den Steinen, den Moosen auf den Steinen, zwischen den Menschen. Und zwischen den Zahlen. Und weißt du, wohin das führt? Zu den Brüchen. Die ganzen Zahlen plus die Brüche ergeben die rationalen Zahlen. Aber das Bewußtsein macht dort nicht halt. Es will die Vernunft überschreiten. Es fügt eine so absurde Operation wie das Wurzelziehen hinzu. Und erhält die irrationalen Zahlen.“ …
„Es ist eine Art Wahnsinn. Denn die irrationalen Zahlen sind endlos. Man kann sie nicht schreiben. Sie zwingen das Bewußtsein ins Grenzenlose hinaus. Und wenn man die irrationalen Zahlen mit den rationalen zusammenlegt, hat man die reellen Zahlen.“ …
„Es hört nicht auf. Es hört nie auf. Denn jetzt gleich, auf der Stelle, erweitern wir die reellen Zahlen um die imaginären, um die Quadratwurzeln der negativen Zahlen. Das sind Zahlen, die wir uns nicht vorstellen können. Zahlen, die das Normalbewußtsein nicht fassen kann. Und wenn wir die imaginären zu den reellen Zahlen dazurechnen, haben wir das komplexe Zahlensystem. Das erste Zahlensystem, das eine erschöpfende Darstellung der Eiskristallbildung ermöglicht. Es ist wie eine große, offene Landschaft. Die Horizonte. Man zieht ihnen entgegen, und sie ziehen sich immer wieder zurück. Das ist Grönland, und das ist es, ohne das ich nicht sein kann! Deshalb will ich mich nicht einsperren lassen.“
(Peter Høeg, Fräulein Smillas Gespür für Schnee, 1996, S. 118 f.)