Kummer schwimmt obenauf

Es war ein Auf-und-Ab-Tag im Hotel New Hampshire mit den ganzen Vorbereitungen für den Silvesterabend: ich erinnere mich, daß über uns allen etwas zu hängen schien, das die gewohnte Mischung von Albernheit und Traurigkeit noch übertraf, als werde uns von Zeit zu Zeit bewußt, daß wir um Iowa-Bob kaum trauerten, und manchmal auch, daß wir – nicht etwa trotz, sondern wegen Iowa-Bob – vor allem eine Verpflichtung hatten: uns zu amüsieren. Das war vielleicht unsere erste Erprobung einer Maxime, die der alte Iowa-Bob an meinen Vater weitergegeben hatte; es war eine Maxime, die Vater uns immer und immer wieder predigte. Sie war uns so vertraut, daß wir nicht im Traum daran dachten, uns anders zu verhalten, als glaubten wir daran – auch wenn uns wahrscheinlich erst sehr viel später klar wurde, ob wir daran glaubten oder nicht.

Die Maxime hatte mit Iowa-Bobs Theorie zu tun, daß wir alle auf einem großen Schiff waren – „auf einer großen Kreuzfahrt, rund um die Welt.“ Und trotz der Gefahr, jederzeit fortgespült zu werden, oder vielleicht wegen dieser Gefahr, war es uns nicht erlaubt, deprimiert oder unglücklich zu sein. Der Lauf der Welt war kein Anlaß zu Blanko-Zynismus und pubertärem Weltschmerz; nach meinem Vater und Iowa-Bob war der Lauf der Welt in seiner Beschissenheit gerade ein Ansporn dafür, sich im Leben ein Ziel zu setzen und voller Entschlossenheit gut zu leben.

„Fröhlicher Fatalismus“, sagte Frank später von dieser Philosophie; Frank war in seinen geplagten Jugendjahren nicht der Typ, der an irgend etwas glaubte.

Und eines Abends, als wir uns im Fernseher über der Bar im Hotel New Hampshire ein erbärmliches Melodram anschauten, sagte meine Mutter: „Den Schluß will ich gar nicht erst sehen. Ich mag keine Happy-Ends.“

Und Vater sagte: „Es gibt keine Happy-Ends.“

„Genau!“ rief Iowa-Bob – mit einer seltsamen Mischung aus Überschwenglichkeit und Gleichmut in seiner rauhen Stimme. „Der Tod ist schrecklich und endgültig und kommt oft zu früh“, erklärte Coach Bob.

„Na und?“ sagte mein Vater.

„Genau!“ rief Iowa-Bob. „Darauf kommt‘s an: Na und?“

Und so war es unsere Familien-Maxime, daß ein unglückliches Ende ein reiches und ausgefülltes Leben nicht untergraben kann. Sie beruhte auf dem Glauben, daß es keine Happy-Ends gab. Mutter ließ das nicht gelten, und Frank reagierte verdrießlich, und Franny und ich waren wahrscheinlich gläubige Anhänger dieser Religion – und wenn wir zuweilen doch Zweifel hatten an Iowa-Bob, dann wartete die Welt immer wieder mit etwas auf, das dem alten Footballer recht zu geben schien. Wir wußten nie, was Lillys Religion war (zweifellos eine kleine Idee, die sie für sich behielt), und Egg war schließlich derjenige, der Kummer barg – in mehr als einer Hinsicht. Kummer zu bergen, ist auch eine Art von Religion.

(John Irving, Das Hotel New Hampshire, 1984, S. 226 ff.)

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