Denn mit den Gedanken ist es eine eigene Sache. Sie sind oft nicht mehr als Zufälligkeiten, die wieder vergehen, ohne Spuren hinterlassen zu haben, und die Gedanken haben ihre Toten und ihre lebendigen Zeiten. Man kann eine geniale Erkenntnis haben, und sie verblüht dennoch, langsam, unter unseren Händen, wie eine Blume. Die Form bleibt, aber die Farben, der Duft fehlen. Das heißt, man erinnert sich ihrer wohl Wort für Wort und der logische Wert des gefundenen Satzes bleibt völlig unangetastet, dennoch aber treibt er haltlos nur auf der Oberfläche unseres Inneren umher und wir fühlen uns seinethalben nicht reicher. Bis – nach Jahren vielleicht – mit einem Schlage wieder ein Augenblick da ist, wo wir sehen, daß wir in der Zwischenzeit gar nichts von ihm gewußt haben, obwohl wir logisch alles wußten.
Ja, es gibt tote und lebendige Gedanken… Ein Gedanke, – er mag schon lange vorher durch unser Hirn gezogen sein, wird erst in dem Momente lebendig, da etwas, das nicht mehr Denken, nicht mehr logisch ist, zu ihm hinzutritt, so daß wir seine Wahrheit fühlen… Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt…
„Ich kann es nicht anders sagen, als daß ich die Dinge in zweierlei Gestalt sehe. Alle Dinge; auch die Gedanken… So wie ich fühle, daß ein Gedanke in mir Leben bekommt, so fühle ich auch, daß etwas in mir beim Anblick der Dinge lebt, wenn die Gedanken schweigen…
Ich weiß: die Dinge sind die Dinge und werden es wohl immer bleiben; und ich werde sie wohl bald so, bald so ansehen. Bald mit den Augen des Verstandes, bald mit den anderen…“.
(Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 70. Aufl. 2019, S. 194 ff.)