„Haben Sie schon einmal eine grüne Meeresschildkröte gesehen, John? … Und zwar eine große grüne Meeresschildkröte mit grünen Flecken auf den Flossen und am Kopf… So seltsam es sich auch anhören mag“, begann Casey, „eine der wichtigsten Lebenslehren in Bezug darauf, welche Dinge ich jeden Tag tue, hat mir eine große grüne Meeresschildkröte vermittelt…
Während eines Urlaubs auf Hawaii schnorchelte ich einmal an der Küste entlang… Ich war zirka 30 Meter vom Strand entfernt und tauchte gerade an einigen großen Felsen hinunter, als ich rechts von mir eine große grüne Meeresschildkröte erblickte, die neben mir herschwamm. Ich hatte bisher noch nie eine in der freien Natur gesehen und war daher außer mir vor Freude…
Ich entschloss mich, an der Oberfläche zu bleiben und sie eine Weile zu beobachten. Verblüfft stellte ich fest, dass es mir nicht gelang, so schnell voranzukommen wie sie, obwohl es so aussah, als würde sie sich ziemlich langsam vorwärts bewegen. Sie paddelte hin und wieder mit den Flossen, um sich dann einfach wieder im Wasser treiben zu lassen. Ich trug Schwimmflossen, die mir einen kraftvollen Vorwärtsschub verliehen…, doch die Meeresschildkröte entfernte sich immer weiter von mir, sosehr ich auch versuchte, mit ihr mitzuhalten.
Nach zirka 10 Minuten hatte sie mich abgehängt…
Am nächsten Tag kehrte ich, in der Hoffnung, weitere Schildkröten zu sehen, an den gleichen Ort zurück. Und tatsächlich … sah ich … eine grüne Meeresschildkröte. Ich beobachtete sie eine Weile … und versuchte, ihr zu folgen, als sie vom Ufer fortschwamm. Wieder war ich überrascht festzustellen, dass ich nicht mit ihr mithalten konnte. Als ich das bemerkte, hörte ich auf, mit den Schwimmflossen zu paddeln, und ließ mich treiben, um sie zu beobachten. In diesem Moment vermittelte sie mir eine wichtige Lebenslehre…
Als ich mich an der Oberfläche treiben ließ, fiel mir auf, dass die Schildkröte ihre Bewegungen der des Wassers anpasste. Wenn sich eine Welle auf das Ufer zubewegte und der Schildkröte ins Gesicht schwappte, ließ diese sich treiben und paddelte gerade so viel, um ihre Position zu halten. Und wenn die Welle wieder zum Ozean hinausströmte, paddelte sie schneller, um die Bewegung des Wassers zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Die Schildkröte kämpfte nie gegen die Wellen an, sondern nutzte sie für sich. Ich konnte nicht mit ihr mithalten, weil ich die ganze Zeit strampelte, egal in welche Richtung das Wasser strömte. Anfangs war das noch in Ordnung, und es gelang mir, auf gleicher Höhe mit der Meeresschildkröte zu bleiben… Aber je mehr ich gegen die hereinrollenden Wellen ankämpfte, desto anstrengender wurde es. Und daher hatte ich nicht genug Kraft übrig, um die zurückströmende Welle auszunutzen.“
„Casey, … ich verstehe noch nicht, was die Geschichte damit zu tun hat, auf welche Art und Weise Menschen sich für etwas entscheiden, um ein erfülltes Leben zu führen.“
„Und ich hatte so große Hoffnungen in Sie gesetzt“, sagte Casey schmunzelnd.
„Okay, okay“, antwortete ich… „Sie haben gesagt, sobald jemand weiß, warum er hier ist…, kann er seine Zeit damit verbringen, Dinge zu tun, die ihn erfüllen. Sie sagten außerdem, dass Menschen, die … [sc. ihr Ziel] nicht kennen, ihre Zeit ebenfalls mit einer Menge von Dingen ausfüllen. Ich schloss daraus, dass sie ihre Zeit mit Dingen verbringen, die ihnen nicht dabei helfen, gemäß … [sc. ihrem Ziel] zu leben…
Ich glaube, die … grüne Meeresschildkröte … hat Sie Folgendes gelehrt: Wenn man nicht auf das ausgerichtet ist, was man gerne tun möchte, kann man seine Energie mit einer Menge anderer Dinge verschwenden. Wenn sich dann die Gelegenheit bietet, das zu tun, was man möchte, hat man möglicherweise nicht mehr die Kraft oder die Zeit dafür.“
„Sehr gut“, sagte Casey… Dann wurde sie ernster…
„Jeden Tag versuchen so viele Menschen, uns zu überreden, Zeit und Energie für sie aufzubringen. Denken Sie nur einmal an Ihre Post. Wenn Sie sich auf jede Aktivität, jede Verkaufsaktion und jedes Dienstleistungsangebot einlassen würden, worüber Sie informiert werden, hätten Sie keine freie Zeit mehr. Und das ist lediglich Ihre Post. Wenn Sie zudem alle Menschen dazurechnen, die Ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken wollen – beispielsweise auf das Fernsehprogramm, auf Restaurants, Reiseziele … – dann tun Sie möglicherweise bald das, was alle anderen auch tun oder von Ihnen erwarten…
Ich erkannte, dass die hereinrollenden Wellen in meinem Leben aus all den Leuten, Aktivitäten und Dingen bestehen, die versuchen, meine Aufmerksamkeit, Energie und Zeit für sich zu gewinnen, die aber nichts mit meinem … [sc. Ziel] zu tun haben. Die zurückströmenden Wellen sind die Menschen, Aktivitäten und Dinge, die mir dabei helfen können, … [sc. mein Ziel] zu erfüllen. Je mehr Zeit und Energie ich daher auf hereinrollende Wellen verschwende, desto weniger Zeit und Energie bleibt mir für die zurückströmenden Wellen. Seit ich dieses Bild in meinem Kopf habe, betrachte ich die Dinge aus einer anderen Perspektive. Ich entscheide viel bewusster, wie viel ich ‚herumpaddele‘ und aus welchem Grund.“
„Das ist interessant“, sagte ich und dachte über ihre Geschichte nach sowie darüber, wie ich Tag für Tag den Großteil meiner Zeit verbrachte. „Ich verstehe nun, was wir von einer grünen Meeresschildkröte lernen können…
Casey, würden Sie mir ein Stück Papier geben und Ihren Stift leihen…?“ …
Ich begann, verschiedene Zahlen auf das Papier zu schreiben. Durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren … Universitätsabschluss mit 22 Jahren … an 6 Tagen pro Woche erhalte ich Post … 16 Stunden bin ich pro Tag wach … 20 Minuten verbringe ich jeden Tag mit der Post …
Als ich mit meinen Berechnungen fertig war, konnte ich das Ergebnis nicht glauben. Ich rechnete die Zahlen erneut durch und erhielt das gleiche Ergebnis…
Wenn ich für die Zeit zwischen meinem Universitätsabschluss und meinem 75. Lebensjahr 20 Minuten täglich veranschlagte, um die Post zu öffnen und durchzusehen, die mich eigentlich nicht interessierte, ergab meine Rechnung, dass ich insgesamt fast ein ganzes Jahr meines Lebens mit überflüssiger Post verbrachte.
Ich ging meine Rechnung erneut durch. Es stimmte. Ich hatte, ab dem Universitätsabschluss gerechnet, insgesamt voraussichtlich 53 Lebensjahre, und wenn ich nicht aufpasste, würde ich eins davon mit dem Lesen von Werbung verschwenden.
„Nun?“ Es war Casey…
„Sie haben Recht“, antwortete ich. „Ich bin überrascht. Mehr als das, ich glaube, ich bin schockiert. Ist Ihnen bewusst, dass allein der Müll in Ihrem Briefkasten ein ganzes Jahr Ihres Lebens verschlingen könnte?“
Sie lächelte. „Nicht die gesamte Post besteht aus Müll, John.“
„Ja, das weiß ich… Außerdem geht es ja nicht nur um die Post. Ich habe mich gerade gefragt, welche anderen hereinrollenden Wellen meine Zeit und Energie täglich beanspruchen.“
„Ja, man kann tatsächlich ins Grübeln geraten“, sagte sie. „Deshalb hatte die Begegnung mit der grünen Meeresschildkröte eine so große Bedeutung für mich.“
(John Strelecky, Das Café am Rande der Welt – Eine Erzählung über den Sinn des Lebens, 43. Aufl. 2018, S. 52 ff.)
“Nicht die gesamte Post besteht aus Müll,…” – Das ist vielen nicht bewusst. Gut, dass es hier betont wird. Leute, baut Euch individuelle Filter, für Arbeit, Freizeit, Ehrenamt und Zwischenmenschliches. Je sicherer man Müll von Nichtmüll trennt, desto länger wird das Leben. Und den Müll bitte nicht den Mitmenschen hinwerfen, sondern höchstpersönlih “artgerecht” entsorgen. Ende der Einmischung in Ihre Philosophien und danke für das Bild mit der Schildkröte. AK.