Die wahre Religion

SALADIN. Ich heische deinen Unterricht in ganz 
Was anderm; ganz was anderm. – Da du nun 
So weise bist: so sage mir doch einmal – 
Was für ein Glaube, was für ein Gesetz 
Hat dir am meisten eingeleuchtet?

NATHAN. Sultan, 
Ich bin ein Jud’.

SALADIN. Und ich ein Muselmann. 
Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei 
Religionen kann doch eine nur 
Die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da 
Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt 
Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, 
Bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. 
Wohlan! so teile deine Einsicht mir 
Dann mit. Laß mich die Gründe hören, denen 
Ich selber nachzugrübeln, nicht die Zeit 
Gehabt. Laß mich die Wahl, die diese Gründe 
Bestimmt, – versteht sich, im Vertrauen – wissen, 
Damit ich sie zu meiner mache. – Wie? 
Du stutzest? wägst mich mit dem Auge? – Kann 
Wohl sein, daß ich der erste Sultan bin, 
Der eine solche Grille hat; die mich 
Doch eines Sultans eben nicht so ganz 
Unwürdig dünkt. – Nicht wahr? – So rede doch! 
Sprich! – Oder willst du einen Augenblick, 
Dich zu bedenken? Gut; ich geb ihn dir. – 
(Ob sie wohl horcht? Ich will sie doch belauschen; 
Will hören, ob ich’s recht gemacht. –) Denk nach! 
Geschwind denk nach! Ich säume nicht, zurück- 
Zukommen. (Er geht in das Nebenzimmer, nach welchem sich Sittah begeben.)

NATHAN (allein). Hm! hm! – wunderlich! – Wie ist 
Mir denn? – Was will der Sultan? was? – Ich bin 
Auf Geld gefaßt; und er will – Wahrheit. Wahrheit! 
Und will sie so, – so bar, so blank, – als ob 
Die Wahrheit Münze wäre! – Ja, wenn noch 
Uralte Münze, die gewogen ward! – 
Das ginge noch! Allein so neue Münze, 
Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett 
Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht! 
Wie Geld in Sack, so striche man in Kopf 
Auch Wahrheit ein? Wer ist denn hier der Jude? 
Ich oder er? – Doch wie? Sollt’ er auch wohl 
Die Wahrheit nicht in Wahrheit fordern? – Zwar, 
Zwar der Verdacht, daß er die Wahrheit nur 
Als Falle brauche, wär’ auch gar zu klein! – 
Zu klein? – Was ist für einen Großen denn 
Zu klein? – Gewiß, gewiß: er stürzte mit 
Der Türe so ins Haus! Man pocht doch, hört 
Doch erst, wenn man als Freund sich naht. – Ich muß 
Behutsam gehn! – Und wie? wie das? – So ganz 
Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht. – 
Und ganz und gar nicht Jude, geht noch minder. 
Denn, wenn kein Jude, dürft’ er mich nur fragen, 
Warum kein Muselmann? – Das war’s! Das kann 
Mich retten! – Nicht die Kinder bloß, speist man 
Mit Märchen ab. – Er kömmt. Er komme nur!

SALADIN. (So ist das Feld hier rein!) – Ich komm’ dir doch 
Nicht zu geschwind zurück? Du bist zu Rande 
Mit deiner Überlegung. – Nun so rede! 
Es hört uns keine Seele.

NATHAN. Möcht’ auch doch 
Die ganze Welt uns hören.

SALADIN. So gewiß 
Ist Nathan seiner Sache? Ha! das nenn 
Ich einen Weisen! Nie die Wahrheit zu 
Verhehlen! für sie alles auf das Spiel 
Zu setzen! Leib und Leben! Gut und Blut!

NATHAN. Ja! ja! wann’s nötig ist und nutzt.

SALADIN. Von nun 
An darf ich hoffen, einen meiner Titel, 
Verbesserer der Welt und des Gesetzes, 
Mit Recht zu führen.

NATHAN. Traun, ein schöner Titel! 
Doch, Sultan, eh’ ich mich dir ganz vertraue, 
Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu 
Erzählen?

SALADIN. Warum das nicht? Ich bin stets 
Ein Freund gewesen von Geschichtchen, gut 
Erzählt.

NATHAN. Ja, gut erzählen, das ist nun 
Wohl eben meine Sache nicht.

SALADIN. Schon wieder 
So stolz bescheiden? – Mach! erzähl, erzähle!

NATHAN. Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann in Osten, 
Der einen Ring von unschätzbarem Wert 
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein 
Opal, der hundert schöne Farben spielte, 
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott 
Und Menschen angenehm zu machen, wer 
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, 
Daß ihn der Mann in Osten darum nie 
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf, 
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu 
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring 
Von seinen Söhnen dem geliebtesten; 
Und setzte fest, daß dieser wiederum 
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache, 
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste, 
Ohn’ Ansehn der Geburt, in Kraft allein 
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. – 
Versteh mich, Sultan.

SALADIN. Ich versteh dich. Weiter!

NATHAN. So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn, 
Auf einen Vater endlich von drei Söhnen; 
Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, 
Die alle drei er folglich gleich zu lieben 
Sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit 
Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald 
Der dritte, – so wie jeder sich mit ihm 
Allein befand, und sein ergießend Herz 
Die andern zwei nicht teilten, – würdiger 
Des Ringes; den er denn auch einem jeden 
Die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. 
Das ging nun so, solang es ging. – Allein 
Es kam zum Sterben, und der gute Vater 
Kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei 
Von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort 
Verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? – 
Er sendet in geheim zu einem Künstler, 
Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, 
Zwei andere bestellt, und weder Kosten 
Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, 
Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt 
Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, 
Kann selbst der Vater seinen Musterring 
Nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft 
Er seine Söhne, jeden insbesondre; 
Gibt jedem insbesondre seinen Segen, – 
Und seinen Ring, – und stirbt. – Du hörst doch, Sultan?

SALADIN (der sich betroffen von ihm gewandt). 
Ich hör, ich höre! – Komm mit deinem Märchen 
Nur bald zu Ende. – Wird’s?

NATHAN. Ich bin zu Ende. 
Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. – 
Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder 
Mit seinem Ring, und jeder will der Fürst 
Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, 
Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht 
Erweislich; – (nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet) Fast so unerweislich, als 
Uns itzt – der rechte Glaube.

SALADIN. Wie? das soll 
Die Antwort sein auf meine Frage?… 

NATHAN. Soll 
Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, 
Mir nicht getrau zu unterscheiden, die 
Der Vater in der Absicht machen ließ, 
Damit sie nicht zu unterscheiden wären.

SALADIN. Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, 
Daß die Religionen, die ich dir 
Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. 
Bis auf die Kleidung; bis auf Speis’ und Trank!

NATHAN. Und nur von seiten ihrer Gründe nicht. – 
Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? 
Geschrieben oder überliefert! – Und 
Geschichte muß doch wohl allein auf Treu 
Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – 
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn 
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? 
Doch deren Blut wir sind? doch deren, die 
Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe 
Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo 
Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – 
Wie kann ich meinen Vätern weniger 
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – 
Kann ich von dir verlangen, daß du deine 
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht 
Zu widersprechen? Oder umgekehrt. 
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? –

SALADIN. (Bei dem Lebendigen! Der Mann hat recht. 
Ich muß verstummen.)

NATHAN. Laß auf unsre Ring’ 
Uns wieder kommen. Wie gesagt: die Söhne 
Verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, 
Unmittelbar aus seines Vaters Hand 
Den Ring zu haben. – Wie auch wahr! – Nachdem 
Er von ihm lange das Versprechen schon 
Gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu 
Genießen. – Wie nicht minder wahr! – Der Vater, 
Beteurte jeder, könne gegen ihn 
Nicht falsch gewesen sein; und eh’ er dieses 
Von ihm, von einem solchen lieben Vater, 
Argwohnen lass’: eh’ müss’ er seine Brüder, 
So gern er sonst von ihnen nur das Beste 
Bereit zu glauben sei, des falschen Spiels 
Bezeihen; und er wolle die Verräter 
Schon auszufinden wissen; sich schon rächen.

SALADIN. Und nun, der Richter? – Mich verlangt zu hören, 
Was du den Richter sagen lässest. Sprich!

NATHAN. Der Richter sprach: Wenn ihr mir nun den Vater 
Nicht bald zur Stelle schafft, so weis ich euch 
Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel 
Zu lösen da bin? Oder harret ihr, 
Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? – 
Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring 
Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; 
Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß 
Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden 
Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei 
Von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? 
Die Ringe wirken nur zurück? und nicht 
Nach außen? Jeder liebt sich selber nur 
Am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei 
Betrogene Betrüger! Eure Ringe 
Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring 
Vermutlich ging verloren. Den Verlust 
Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater 
Die drei für einen machen.

SALADIN. Herrlich! herrlich!

NATHAN. Und also, fuhr der Richter fort, wenn ihr 
Nicht meinen Rat, statt meines Spruches, wollt: 
Geht nur! – Mein Rat ist aber der: ihr nehmt 
Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von 
Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: 
So glaube jeder sicher seinen Ring 
Den echten. – Möglich; daß der Vater nun 
Die Tyrannei des einen Rings nicht länger 
In seinem Hause dulden wollen! – Und gewiß; 
Daß er euch alle drei geliebt, und gleich 
Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, 
Um einen zu begünstigen. – Wohlan! 
Es eifre jeder seiner unbestochnen 
Von Vorurteilen freien Liebe nach! 
Es strebe von euch jeder um die Wette, 
Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag 
Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, 
Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, 
Mit innigster Ergebenheit in Gott 
Zu Hilf’! Und wenn sich dann der Steine Kräfte 
Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern: 
So lad ich über tausend tausend Jahre, 
Sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird 
Ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen, 
Als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der 
Bescheidne Richter.

(Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, 1990, V. 1837 ff.)

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