„Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?“
„Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, daß aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.“
„Das gefällt mir sehr, Goldmund… Aber ich glaube, du hast das Wunderbare der Kunst mit deiner Definition noch nicht erschöpft. Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß darin, daß durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird. Ich habe manches Kunstwerk gesehen, manchen Heiligen und manche Madonna, von denen ich nicht glaube, daß sie bloß treue Abbilder irgendeines einzelnen Menschen sind, der einmal gelebt hat und dessen Formen oder Farben der Künstler aufbewahrt hat.“
„Da hast du recht“, rief Goldmund eifrig… „Das Urbild eines guten Kunstwerks ist nicht eine wirkliche, lebende Gestalt, obwohl sie der Anlaß dazu sein kann. Das Urbild ist nicht Fleisch und Blut, es ist geistig. Es ist ein Bild, das in der Seele des Künstlers seine Heimat hat…“.
„Wie schön! Und jetzt, mein Lieber, hast du dich, ohne es zu wissen, mitten in die Philosophie begeben und hast eines ihrer Geheimnisse ausgesprochen.“…
„Du hast von den ,Urbildern‘ gesprochen, von Bildern also, die nirgends vorhanden sind als im schöpferischen Geist, die aber in der Materie verwirklicht und sichtbar gemacht werden können. Lang ehe eine Kunstgestalt sichtbar wird und Wirklichkeit gewinnt, ist sie schon vorhanden, als Bild in der Seele des Künstlers! Dieses Bild nun, dies ,Urbild‘ ist aufs Haar genau das, was die alten Philosophen eine ,Idee‘ nennen.“…
„Nun, und indem du dich zu Ideen bekennst und zu Urbildern, begibst du dich in die geistige Welt, in unsere Philosophen- und Theologenwelt, und gibst zu, daß mitten in dem verwirrten und schmerzlichen Schlachtfeld des Lebens, mitten in diesem endlosen und sinnlosen Totentanz des leiblichen Daseins der schöpferische Geist vorhanden ist.“
(Hermann Hesse, Narziß und Goldmund, 31. Aufl. 1993, S. 276 f.)