Er hatte auch die Erfahrung gemacht, daß geistige Menschen bei den andern eine gewisse wunderliche Art von Anstoß und Widerwillen erregen, daß man sie zwar aus der Ferne schätzt und in Notfällen in Anspruch nimmt, sie aber keineswegs liebt und als seinesgleichen empfindet, ihnen vielmehr ausweicht. Auch das hatte er erfahren, daß überkommene oder frei erfundene Zaubersprüche und Bannformeln vom Kranken und Unglücklichen viel williger angenommen werden als vernünftiger Rat, daß der Mensch lieber Ungemach und äußere Buße auf sich nimmt als sich im Innern ändert oder auch nur prüft, daß er an Zauber leichter glaubt als an Vernunft, an Formeln leichter als an Erfahrung: lauter Dinge, welche sich in den paar tausend Jahren seither vermutlich nicht so sehr geändert haben, als manche Geschichtsbücher behaupten. Er hatte aber auch gelernt, daß ein forschender geistiger Mensch die Liebe nicht verlieren darf, daß er den Wünschen und Torheiten der Menschen ohne Hochmut entgegenkommen, sich aber nicht von ihnen beherrschen lassen dürfe, daß es vom Weisen zum Scharlatan, vom Priester zum Gaukler, vom helfenden Bruder zum schmarotzenden Nutznießer immer nur einen Schritt weit ist und daß die Leute im Grunde weit lieber einen Gaukler bezahlen, sich von einem Marktschreier ausnützen lassen, als ohne Entgelt eine selbstlos geleistete Hilfe annehmen. Sie wollten nicht gern mit Vertrauen und Liebe bezahlen, sondern lieber mit Geld und Ware. Sie betrogen einander und erwarteten, selbst betrogen zu werden. Man mußte lernen, den Menschen als ein schwaches, selbstsüchtiges und feiges Wesen zu sehen, man mußte auch einsehen, wie sehr man selbst an allen diesen üblen Eigenschaften und Trieben teilhabe, und dufte dennoch daran glauben und seine Seele davon nähren, daß der Mensch auch Geist und Liebe sei, daß etwas in ihm wohne, das den Trieben entgegensteht und ihre Veredlung ersehnt.
(Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, 29. Aufl. 1994, S. 507 f.)