Normgebete

Gott hatte ich verloren, als ich das Beten optimierte. Seit frühester Kindheit hatte ich jeden Abend zwei lange Normgebete gesprochen, und zwar mit enervierender, masochistischer Langsamkeit, um bloß nicht der Eile und Oberflächlichkeit bezichtigt werden zu können. Zwischen beiden hatte ich immer ein ziemlich langes Zwiegespräch mit Gott geführt, eine tatsächliche Rekapitulation des Tages vorgenommen wie auch eine Wunschliste für den nächsten Tag und die nähere Zukunft erstellt. Die Gespräche bildeten das Kernstück dieses Rituals im Dunkeln, die beiden Standardgebete den Rahmen. Irgendwann mit elf oder zwölf Jahren dann fingen die Gebete an, sich immer schneller abzuspulen, auch das Zwiegespräch beschränkte sich nun auf das Wesentlichste und arbeitete bald mit Wiederholungen und Textbausteinen. Ich war dabei, das Beten zeitlich und formal zu optimieren. Der Pragmatismus zog in mein Kinderbett ein. Die Rahmengebete wurden immer rasender und schneller heruntergerasselt, das eigentliche Gespräch kaum mehr durchdacht. Das Kreuzzeichen war ein kurzes Fingersteppen auf der Brust. Als das Ganze schließlich nur noch einem schludrig hingerappten Sprachwirrwar glich, lies ich das Gebetsritual sein. Damit starb aber auch Gott. Das schockierte mich, doch es führte kein Weg zurück… Es gefiel mir nicht, aber ich war nun Atheist. Und ahnte: Wo die Form zerfällt, zerfällt auch der Inhalt.

(Thomas Melle, Die Welt im Rücken, 5. Aufl. 2016, S. 228 f.)

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