Das Gesamtwerk

Mein tägliches Notieren von neuen und seltsamen Worten aus meiner Umgebung machte zusammen mit dem Abschreiben von merkwürdigen oder gar schönen Stellen aus den Büchern ein unentwegt schreibendes Kind aus mir, das freilich keinen einzigen Satz aufschrieb, den es sich selbst ausgedacht hatte. Ich schrieb also ab, ich exzerpierte und ich kombinierte meine jeden Tag wachsenden Wort- und Satz-Sammlungen unaufhörlich, ohne irgendeinen persönlichen Eindruck von der Welt um mich herum festzuhalten…

Jede Eintragung stand unter einem genauen Datum, ich fixierte den Tag und die Uhrzeit, dann ging es los. Zwischen die in meiner Umgebung gefundenen Texte mischten sich die aus Büchern abgeschriebenen, daneben aber gab es kleine Zeichnungen, Skizzen und Ausschnitte aus Zeitungen oder Zeitschriften, die ich noch zusätzlich in meine Kladden klebte.

Bei flüchtiger Betrachtung hätte man durchaus denken können, dass sich bei diesen Kladden um Objekte eines naiven oder auch wahnsinnigen Künstlers handelte, so einen geradezu manisch systematischen und irritierend kleinteiligen Eindruck machten sie. Und wahrhaftig habe ich in späteren Jahren viele Projekte und Installationen von Künstlern kennengelernt, die gewisse Ähnlichkeiten mit meinen früheren Schreibbüchern aufwiesen.

Seit ich mit diesen Kladden angefangen habe, habe ich sie gesammelt, keine einzige ist je verschwunden, und da ich diese Kladden bis zum heutigen Tag – wenn auch später in anderer Form – weitergeführt habe, ist inzwischen eine große Sammlung entstanden, die auf einem Gelände untergebracht ist, das ich bis heute Die Familienphantasie nenne…

Ein Geodät wie mein Vater hat einmal errechnet, dass Die Familienphantasie zusammen mit den beiden großelterlichen Häusern fast exakt ein gleichschenkliges Dreieck bildet.

Die Familienphantasie ist also ein utopischer, konstruierter Raum.

(Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens, 19. Aufl. 2011, S. 287 ff.)

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