Dass Sokrates ein großer Fragender war, ist ein nicht auszurottendes Vorurteil. Genau das Gegenteil ist wahr! Er stellte sich auf die Straßen Athens und passte den Nächstbesten ab, der gerade vorbeikam. Dann fragte er betont harmlos nach diesem und jenem, aber er hörte nicht zu. Ja oder Nein – mehr blieb den Befragten schließlich nicht mehr zu antworten, während Sokrates die Fragerunden nutzte, seine eigenen Themen und sein eigenes Denken Frage für Frage in Szene zu setzen… Immer dieselbe Methode, immer dasselbe, den anderen laut- und hilflos machende Fragen! Grausame Exerzitien an Schülern! Hat es je einen schlimmeren Fragesteller gegeben? Er war der Vorläufer der Inquisition! Ihn haben alle nachgeahmt, die seine Fragemethoden als das begriffen, was sie eigentlich waren: als Folter!
(Hanns-Josef Ortheil, Das Kind, das nicht fragte, 6. Aufl. 2014, S. 189)